Im ersten Gang fahre ich den Hang hinauf, Kurve um Kurve. Zehn Minuten Fahrradstrecke von der Ravensburger Innenstadt entfernt treffe ich mich mit Siegbert Gerster. Auf dem Hofgut Hinterstrauben, eingefügt in das hügelige, sattgrüne Auf und Ab der Oberschwäbischen Landschaft, befindet sich eine Hühnerhaltung der besonders Art. Sie ist das Ergebnis einer Suche nach glücklichen Hühnern.
Idyllischer hätte Siegbert Gerster den Empfang kaum gestalten können. Hier oben, im “Mini-Allgäu”, wie ich es nenne, scheint die nahegelegene Bundesstraße fast vergessen, wäre da nicht noch ein fernes Verkehrsrauschen. Die kurvige Straße führt mich zunächst an urigen Schottischen Hochlandrindern vorbei. An der nächste Kurve dann: das Hofgut Hinterstrauben. Freilaufende Hühner, der Zaun liegt auf dem Boden. Doch Siegbert Gerster erklärt mir als erstes, dass auch bei ihm nicht die völlige “Hühner-Anarchie” herrscht. Gerade heute ist er dabei, seine Hühner umzuziehen. Diese leben nomadisch im Hühnermobil und bekommen alle 7 bis 14 Tage eine neue Weide mit frischem Gras. Und während dem Umzug dürfen seine Hühner dann auch mal ganz ohne Zaun umherspringen.
Wobei, “seine” Hühner ist vielleicht die falsche Formulierung. Denn eigentlich ist Gerster nur der Ziehpapa der Hühner. Denn “seine” Hühner sind “Familienhühner”. Jedes seiner 87 Legehennen hat einen Paten. Der verpflichtet sich für ein Jahr und bezahlt im Monat 13,04 € für Futter, Pflege, Informationen – und natürlich Eier. Zwischen 0 und 22 Eier gibt es dann pro Monat für jeden, wie viele konkret hängt immer davon ab, wie legelustig die Tiere sind. Das “Familienhuhn” ist kein gemeinnütziger Verein oder die Idee eines romantisches Weltverbesserers. Es ist ein Projekt, welches wirtschaftlich arbeitet und dabei versucht, die teils unbekannten, gut verborgenen Hintergründe unserer Lebensmittelproduktion darzustellen.

Denn auch wenn wir oft die Augen davor verschließen, so kennen wir alle die Bilder aus Ställen, in denen Hühner wie übereinander gestapelt leben. Gekürzte Schnäbel, ein nacktes “Federkleid”, Masthähne, die sich aufgrund ihres Gewichtes kaum mehr bewegen können. Auch wenn wir hoffen, dass in der ökologischen Tierhaltung alles viel besser ist, so wissen wir es nicht. Bei Richtlinien von maximal 3000 Legehennen pro Stall sollten wir uns auch hier nichts vormachen: eine artgerechte Haltung sieht anders aus. Ein schockierender Film mit dem Titel “Auf der Suche nach dem glücklichen Huhn”, der zeigt, wie Hühnerhaltung oft aussieht, war für Siegbert Gerster ein Anstoß, sich mit dem Thema zu beschäftigen – die Konsequenz war, selbst Landwirt zu werden. Denn die Nicht-Artgerechte Haltung ist nicht das einzige, was in der Hühnerhaltung falsch läuft. Doch dazu später mehr.
Eigentlich ist Siegbert Gerster Kaufmann. Selbst auf einem Milchviehbetrieb aufgewachsen, hätte er sich nie vorstellen können, später Landwirt zu werden. 19 Jahre arbeitete er im selben Unternehmen, zunächst im Telefonverkauf, am Ende war er als stellvertretender Betriebsleiter für vielfältige Aufgaben zuständig, vom Einkauf über Mitarbeiterschulungen bis zur Betreuung der Übernahme weiterer Firmen. Mit der Zeit reizten ihn neue Aufgaben und auch die Frage, was er in der Welt hinterlassen würde beschäftigte ihn immer mehr. Siegbert Gerster suchte Neuland mit Sinn. Doch was tun mit 45 Jahren, jahrelanger Beschäftigung im selben Unternehmen und den Verpflichtungen von Haus und Familie? Gerster entschied sich für ein Bauchgefühl und stieg zunächst aus, ohne einen Plan zu haben. Das schaffte Platz für neue Erfahrungen und Begegnungen.
Eine dieser Begegnungen wurde die Solidarische Landwirtschaft Bad Waldsee, der er sich anschloss, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine in Ravensburg gab. Gerster erlebte, dass Solidarische Landwirtschaft chaotisch sein kann, er erlebte aber auch, dass Menschen, die eine Idee und ein Ziel teilen, gemeinsam arbeiten können und dabei auch ihre persönlichen Meinungen zurück stecken können. Trotz der Schwierigkeit, dass es zunächst wenig Gemüse gab, waren die meisten Mitglieder weiterhin begeistert dabei. Nachdem Gerster vor 13 Jahren wieder auf den (mittlerweile nicht mehr betriebenen) Hof seiner Kindheit zog, das Hofgut Hinterstrauben, fing er an mit der Hobby-Tierhaltung. Er hielt Gänse, Schweine, Hühner und andere Tiere. Immer wieder überlegte Gerster, wie seine landwirtschaftlichen Flächen um das Hofgut mit der Idee einer Solidarischen Landwirtschaft zusammen passen könnten. Im Umkreis bildeten sich viele Initiativen für eine SoLawi, doch alle wollten nur Gemüse anbauen, kaum einer Tiere halten. Und wie so oft im Leben, führte das eine zum anderen.

Naiv dachte Gerster sich, dass er nach über zehn Jahren Hobby-Hühnerhaltung wüsste, was diese Tiere brauchen. Heute weiß er, dass es bei einer professionellen Hühnerhaltung auf ganz andere Dinge ankommt. Die Lernkurve war steil, nicht nur für ihn. Auch im Umgang mit den Hühnerpaten kommen immer wieder spannende Diskussionen auf. Siegbert Gerster möchte nämlich nicht nur möglichst glückliche Hühner halten, er möchte auch auf die vielfältigen Problematiken in der Landwirtschaft aufmerksam machen. Kaum einer weiß, dass Legehennen in der Regeln nur eine “Saison” lang gehalten werden. Danach legen sie für die Produktion zu wenig Eier, die Haltung ist kaum mehr rentabel. Doch da es beim Familienhuhn nicht nur um die Eierproduktion geht, dürfen die Hühnerpaten entscheiden, was nach der Saison mit “ihren” Hühnern geschehen soll. Sollen Sie noch eine weitere Saison leben und Eier legen? Sollen sie an private Hühnerhalter abgegeben werden? Oder sollen sie im Kochtopf landen? Das sorgt für rege Diskussionen.
Besonders ist bei Gerster Familienhuhn auch, dass die sogenannten “Bruderhähne” aufgezogen werden. Denn wenn junge Legehennen aufgezogen werden, schlüpfen genauso viele männliche Küken. Die können aber keine Eier legen und sind für die Mast ungeeignet, da die Rasse so auf das Eierlegen gezüchtet ist, dass sie kaum Fleisch ansetzt. Daher sind die Familienhühner Teil des Züchtungsprojektes der gemeinnützigen “Ökotierzucht GmbH” mit einem Zweinutzungshuhn, welches nicht ganz so spezialisiert, dafür aber für Eier und die Hähnchenmast geeignet sein wird. Die Bruderhähne wachsen auf einem Partnerbetrieb auf. Damit die höheren Kosten der Aufzucht auch getragen werden, verpflichtet sich jeder Pate, Bruderhahn-Gockelprodukte im Wert von 35 € pro Jahr abzunehmen. Ein nachhaltiges Ei ist also nichts für Vegetarier.
Die artgerechte Haltung ist für Gerster sehr wichtig. Neben der Haltung im eigens entwickelten Mobilstall bekommen seine Hühner nur Futter aus biologischer Erzeugung und wenn möglich aus der Region. Offiziell hat er kein Bio-Siegel, doch jeder seiner Kunden kann vorbei kommen und sich von seiner Arbeitsweise überzeugen. Für ihn ist klar, dass die Verbraucher sich nicht nur auf Siegel verlassen sollten, sondern auf nachvollziehbare Qualität. Auf die Beziehung zum Erzeuger und auch darauf, dass sie einen Preis zahlen, der die Kosten deckt. Denn dass ein Bio-Ei für 24 Cent kein Ei von einem Huhn sein kann, welches ein gutes Leben hat – gerade dann, wenn noch der Groß- und Einzelhandel mitverdient – ist für ihn klar. Für viele Verbraucher jedoch nicht.

Natürlich werden bei Siegbert Gerster keine Schnäbel kupiert, frisches Wasser gibt es im Stall wie auch draußen, die Hühner können scharren und sandbaden und haben Versteckmöglichkeiten unter Sträuchern und im alten Spielhaus von Gersters Tochter. Drei stolze Hähne passen auf die 87 Hühner auf, denn die Freilandhaltung birgt auch Gefahren durch Raubvögel. Nach anfänglichem Zögern fanden sich immer mehr Paten zusammen. So viele, dass er mittlerweile schon eine Warteliste hat und ein weiteres Hühnermobil vor Ort geplant ist. Interesse gibt es auch andernorts; in Bad Waldsee und Wangen bereitet Gerster schon weitere Hühnergemeinschaften vor, in Zusammenarbeit mit anderen Landwirten. Er sieht die “Solidarische Hühnergemeinschaft” als gute Möglichkeit für existierende Betriebe, sich neue Geschäftszweige zu suchen, auszuprobieren und engere Kontakte mit Kunden zu knüpfen. Gerster ist zwar ein beständiger und bodenständiger Mensch, es ist aber die Abwechslung, die ihn reizt. Er träumt davon, Solidarische Landwirtschaft auch mit weiteren Produkten wie Milch und Fleisch zu etablieren und wirklich ökologisch hergestellte Hühnermobile zu vertreiben – denn die gibt es noch nicht.
Mit einem Augenzwinkern erzählt er mir, dass seine “Familienhühner” auch Fotos machen und E-Mails schreiben können. Ein Mal pro Monat würden sie einen Newsletter mit einem Lagebericht direkt aus dem Hühnerstall verschicken. Mit seinem Familienhuhn leistet Gerster Aufklärungsarbeit. Die Menschen kaufen sich auch ein Stück seiner Zeit. Im Grunde genommen, sagt er, wird er viel eher dafür bezahlt, als für Hühnereier.
Autor: Malchus Kern
Vielen Dank an Nadine Wahl für das Lektorat!
Yes! We Can Farm wird als Projekt nicht mehr weiter geführt. Sie finden meine Dienstleistungen jetzt unter Grünes Wachstum.
